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Begriff Das Ungefühlte

Das Ungefühlte

  • Version 1.0
  • Veröffentlicht 31. Oktober 2023

Institutionen und soziale Praktiken modulieren die gesellschaftliche Affektivität auf vielfältige Weise, mit der Folge, dass bestimmte Themen, Sachverhalte oder Entwicklungen intensive und nuancierte affektive Reaktionen auf sich ziehen, während andere Themen aus dem Rahmen kollektiver Anteilnahme weitgehend herausfallen. Diese werden dann bloß schwach und am Rande affektiv erfasst. Während das Interesse der sozialtheoretischen Affekt- und Emotionsforschung zumeist den positiven Hervorbringungen der gesellschaftlichen Gefühlsproduktion gilt, also dem in einer Gesellschaft manifest Gefühlten und den diesen Gefühlen zugrundeliegenden Ereignissen, hat das dabei miterzeugte „Ungefühlte“ weniger theoretische Aufmerksamkeit erfahren. Häufig ist es jedoch Thema von Kritiker*innen und Aktivist*innen, welche die ausbleibende öffentliche Anteilnahme in Bezug auf Missstände, Leid und Ungerechtigkeit bemängeln und entsprechende Gefühle und Handlungen einfordern. Das zeigt sich in geforderten Reaktionen auf rassistische Gewalt, in Greta Thunbergs Appell „I want you to panic!“ oder in der Rebellion gegen die Normalisierung von Femiziden durch die Bewegung Ni una menos.

Das Ungefühlte ist ein Reflexionsbegriff. Das bedeutet, dass der Begriff nicht in einem bestimmten Theorierahmen verankert ist, sondern zunächst auf Phänomene verweist, die Gemeinsamkeiten hinsichtlich der affektiven Nichtthematisierung von gesellschaftlichen Verhältnissen aufweisen. Stets geht es um Sachlagen, die in der Reichweite gesellschaftlicher Affektivität liegen, deren affektive Erfassung jedoch ausfällt oder schwach bleibt, und zwar zumindest partiell infolge gezielter Bemühungen durch organisierte Interessen oder politische Lager. Als Reflexionsbegriff schärft die Kategorie das Problembewusstsein dafür, wie Affektivität in Kollektiven verhindert, abgeschwächt oder abgewehrt wird und regt theoretische Befassungen mit den Praktiken der gesellschaftlichen Affektgestaltung an. Damit vermittelt das Konzept zwischen Affekttheorie, dem politischen und lebensweltlichen Ringen um gesellschaftliche Wirklichkeitsbestimmung sowie gefühlspolitischen Initiativen aktivistischer Gruppen. Letztere fordern die Befassung mit vernachlässigten Anliegen öffentlich ein oder verbinden sich zu „Gegengemeinschaften“, die alternative affektive Praktiken erproben. 

Grob lässt sich das Konzept des Ungefühlten in zwei Dimensionen unterteilen: Einerseits das Ungefühlte als Gegenstand möglicher Anteilnahme und andererseits das Nichtfühlen (unfeeling) als Modalität schwacher, abgewehrter, umgelenkter oder sporadischer Affektivität. In dieser Aufteilung ist das Ungefühlte im engeren Sinn eine Sachlage, die real besteht und die sich aus nachvollziehbaren (wenn auch zumeist umstrittenen) Gründen als adäquater Gefühlsanlass auszeichnen lässt. Demgegenüber meint Nichtfühlen bzw. unfeeling ein Spektrum von reduzierten, abgeschwächten oder von erwartbaren Reaktionen bewusst stark abweichenden affektiven Bezugnahmen; es reicht vom seltenen Fall einer vollständigen Abwesenheit jeglichen fühlenden Bezugs über Modi abgeschwächter oder sporadischer Anteilnahme bis zu mitunter heftigen Kompensationsaffekten, die sich auf andere Objekte oder Ausschnitte des fraglichen Sachverhalts beziehen oder die den Sachverhalt, auf den zu reagieren wäre, nicht ausmachen können. Dieser Einteilung zufolge könnten also einige der negativen affektiven Reaktionen, die Klimaaktivist*innen und ihre Aktionen auf sich ziehen, als Form des Nichtfühlens der Klimakrise verstanden werden: als Kompensationsgefühle, die sich, statt auf die Problematik der Klima- und Umweltkrise selbst, auf ein damit verbundenes Ersatzobjekt richten.

Auch in theoretischer Hinsicht können die Spielarten des Ungefühlten das Nachdenken über gesellschaftliche Affektlagen und deren wirklichkeitserschließende oder -verschließende Kraft anleiten. Verschiedene Aspekte sind hierbei von Interesse: So etwa das Zusammenwirken individueller affektiver Dispositionen und gesellschaftlicher Affektdynamiken, verschiedene Praktiken und affektive Sozialtechniken der Abwehr, die Fähigkeit von Individuen und Kollektiven, mit konträren Wirklichkeitsbestimmungen und den Dissonanzen zwischen ihnen umzugehen, und nicht zuletzt die komplexen Prozesse, die auf lange Sicht selektive, einseitige, von Partikularinteressen geleitete oder verfälschte Deutungen historischer Geschehnisse artikulieren und in gesellschaftlichen Repertoires verankern. Ebenfalls von Interesse sind Interventionen gegen das gesellschaftlich Ungefühlte: Affektive Engagements sozialer Bewegungen, ästhetische Unterbrechungen bestehender Affektformationen und Emotionsrepertoires, die Insistenz Betroffener auf den affektiven Evidenzen erfahrener Verletzungen, das bewusst kultivierte, alternative Lebensweisen präfigurierende Andersfühlen im Rahmen von Gegengemeinschaften und weiteres mehr.

Eine wichtige Frage, die das Konzept des Ungefühlten aufwirft, ist die nach Kriterien der Angemessenheit von Gefühlen auf gesellschaftlicher Ebene. Woran bemisst sich und wer bestimmt, was in einem Gemeinwesen als adäquater Gefühlsanlass gilt? Ohne einen normativen Einsatz kommen Thematisierungen des Ungefühlten nicht aus, denn sie basieren auf der Annahme, dass eine Begebenheit mehr und andere emotionale Anteilnahme verdient, als ihr de facto zuteilwird. Diese Annahme ergibt sich oft aus der Diagnose einer materiellen Ungerechtigkeit oder eines bestehenden Gewaltverhältnisses. Auch hieran wird deutlich, weshalb die Kategorie des Ungefühlten ein Reflexionsbegriff ist: der Begriff zielt darauf, das gesellschaftliche Ringen um verbindliche Wirklichkeitsbestimmung affekt- und emotionstheoretisch zu erhellen. Die Betrachtung des Ungefühlten eröffnet damit auch den Blick auf Transformationspotenziale in gesellschaftlichen Affektdynamiken und Emotionsrepertoires. Vertiefte Thematisierungen des Ungefühlten erfordern einen normativen Einsatz auf Seiten der Theoretiker*innen, denn erst wenn man eine Sachlage selbst für bedeutsam hält und die in ihr zum Ausdruck kommende normative Orientierung teilt, erschließt sich die gesellschaftliche Gefühlsabwehr in ihrer ganzen Tragweite. 

Psychoanalytische Ansätze sind ein weiteres theoretisches Feld, das ein nuanciertes Vokabular zum Verständnis des Ungefühlten anbietet. Die Unterscheidung zwischen innerpsychischen Vorgängen der Triebabwehr durch Verdrängung und Verneinung auf der einen und Prozessen der Wirklichkeitsverschiebung durch Verleugnung und Verwerfung auf der anderen Seite ist instruktiv, um Varianten des Nichtfühlens und der Vermeidung von negativen Gefühlen zu untersuchen. Zudem weisen diese Ansätze auf die Bedeutung von psychischer Selektion und Reizschutz hin, die bei einer normativen Thematisierung des Ungefühlten und seiner Kritik berücksichtigt werden sollten.

Im SFB wird das Konzept des Ungefühlten theoretisch neu erarbeitet und mit Blick auf den gesellschaftlichen Umgang mit der globalen Klima- und Umweltkrise gegenwartsdiagnostisch eingesetzt und geprüft.

Publikationen aus dem SFB Affective Societies

  • Kohpeiß, H. (2023). Bürgerliche Kälte. Affekt und koloniale Subjektivität. Frankfurt am Main: Campus.
  • Slaby, J. (2023). ‘Don’t Look Up’: Affektive Entwirklichung und das gesellschaftlich Ungefühlte. In: von Maur, I., H. Walter und U. Meyer (Hg.), Wozu Gefühle? Philosophische Reflexionen für Achim Stephan (pp. 67-92). Leiden: Brill.
  • Slaby, J. (2024). Structural Apathy, Affective Injustice, and the Ecological Crisis. Philosophical Topics [im Erscheinen]

Sonstige Quellen

Berlant, L. (2015). Structures of unfeeling: “Mysterious Skin”. International Journal of Politics, Culture, and Society 28(3), 191-213.

Butler, J. (2009). Frames of War: When is Life Grievable? London: Verso.

Freud, S. (2000 [1920]). Jenseits des Lustprinzips. In: Ders.: Studienausgabe Bd. 3: Psychologie des Unbewußten. Frankfurt a. M.: Fischer.

Loick, D. (2021). The Ethical Life of Counter-Communities. Critical Times (Berkeley, Calif.) 4 (1): 1–28. https://doi.org/10.1215/26410478-8855203.

Mitscherlich, A., & Mitscherlich, M. (1967). Die Unfähigkeit zu trauern: Grundlagen kollektiven Verhaltens. München: Piper.

Norgaard, K. M. (2011). Living in denial: Climate change, emotions and everyday life. Cambridge, MA: MIT Press.

Yao, X. (2021). Disaffected: The Cultural Politics of Unfeeling in Nineteenth-Century America. Durham, NC: Duke University Press.

Zitierweise

Henrike Kohpeiß, Jan Slaby: „Das Ungefühlte“. In: Affective Societies: Key Concepts Online. Published by SFB 1171 Berlin, 31. Oktober 2023.