Affektive Stasis bezeichnet eine spezifische Modalität und zeitliche Verlaufsform affektiver Relationalität, die vorrangig durch Stillstand und Bewegungslosigkeit gekennzeichnet ist. Das Konzept der affektiven Stasis verweist auf einen grundlegenden Mangel an affektiver Plastizität, worunter die Fähigkeit von menschlichen und nicht-menschlichen Körpern verstanden wird, sich auf vielfältige, heterogene und unvorhergesehene Weise affizieren zu lassen. Es trägt damit dem Umstand Rechnung, dass nicht nur gesellschaftliche Transformation, sondern auch das Ausbleiben von Veränderung eine genuin affektive Dimension aufweist. Dadurch wird es möglich, auch die im Sozialen wirksamen Beharrungskräfte und realgeschichtlichen Trägheitsmomente als spezifische affektive Phänomene zu konzeptualisieren. Gemäß seinem Ursprung im Altgriechischen verweist der Begriff der Stasis nicht nur auf Phänomene der (affektiven) Unbeweglichkeit und Erschlaffung, sondern ihm ist zugleich eine kritische Schwelle eingeschrieben, jenseits derer sich Arretierung und Stillstand mit einem Mal in ein Ereignis disruptiver Art verkehren können. So bezeichnete die Stasis im Altgriechischen nicht nur Stauung und Stillstand, sondern auch den Aufstand und Bürgerkrieg innerhalb der Polis. Das Konzept spannt sich folglich zwischen zwei Polen auf, die ein Spektrum verschiedenartiger affektiver Phänomene abdecken: Während sich dem einen Pol Phänomene affektiver Lähmung und Bewegungslosigkeit zuordnen lassen, geht der andere Pol mit Atmosphären und Stimmungen einher, die durch eine latente Anspannung und explosive Eskalationsbereitschaft gekennzeichnet sind.
Aufgrund dieser Spannweite ist das Konzept besonders geeignet, die Zeitlichkeit und Historizität affektiver Arrangements in ihrer Komplexität zu analysieren. Seinen vorrangigen Anwendungsbereich findet das Konzept im Bereich des Politischen, da es erlaubt, besser zu verstehen, welche Faktoren von Affektivität und wechselseitigem Affektgeschehen zur Aufrechterhaltung und Verstetigung des gesellschaftlichen und politischen Status quo beitragen. So kann die Herstellung affektiver Stasis das Resultat gezielter Regierungstechniken sein, die auf die Kontrolle und Stillstellung bestimmter Menschengruppen abzielen, zum Beispiel in Internierungslagern, Quarantänestationen, Gefängnissen oder Auffangzentren für Geflüchtete. Umgekehrt tritt sie aber auch in latenten, weniger augenscheinlichen Formen auf, die sich nicht vollständig auf die Absichten und Interessen bestimmter Individuen oder Kollektive zurückführen lassen. Im SFB wurde die diffuse, zwischen den Polen der Ermüdung und der Auflehnung changierende Affektivität während der durch die Covid-19-Pandemie bedingten Lockdowns als exemplarischer Fall von affektiver Stasis analysiert. Aber auch Momente des Ausbleibens angemessener affektiver Reaktionen auf die globale Klimakrise oder die historische Persistenz rassistischer Denk- und Wahrnehmungsmuster sind mitunter als Fälle affektiver Stasis analysierbar.