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Begriff Sentiment

Sentiment

  • Version 1.0
  • Veröffentlicht 4. November 2022

Sentiments sind in affektive und emotionale Dynamiken eingebettete Bedeutungs- und Bewertungsregime. Das in der englischen Umgangssprache gebräuchliche Wort sentiment, das keine eindeutige Entsprechung im Deutschen hat, lässt sich sowohl mit „Gefühl“ als auch „Meinung“ übersetzen und verweist als nicht-diskretes Nomen auf kollektive Phänomene (etwa: „the rise of racist sentiment“). Sentiment als analytischer Begriff greift die damit angedeutete affektive und emotionale Dimension des Urteilens und Bewertens im Kontext von Kollektiven auf. Der Begriff beschreibt das Phänomen, dass Bedeutungs- und Bewertungsregime, die Sinngebungsprozesse in vielfältiger Weise strukturieren und regulieren, durch affektive und emotionale Dynamiken katalysiert, stabilisiert und gegebenenfalls transformiert werden. Im SFB hilft ein solcher Sentiment-Begriff, längerfristige Prozesse der Herausbildung und Verankerung affekt- und emotionsbasierter Orientierungen und Werthaltungen sowie die Transformationen dieser Prozesse in den Blick zu bringen.

Sentiments werden von Individuen in emotionaler und affektiver Weise erlebt, sie gehen jedoch über die subjektive Erfahrungsdimension Einzelner hinaus. Sie sind institutionell und organisatorisch materialisiert und existieren auf kollektiver Ebene in Form teils großräumiger Diskursformationen. Insofern haben Sentiments jenseits ihrer emotionalen und affektiven Grundierung einen semantischen Inhalt, sind jedoch mit den Begriffen „Einstellungen“ oder „Meinungen“ nicht hinreichend beschrieben. Sentiments entfalten ihre performative Kraft gerade durch die Grundierung normativer Einschätzungen in affektiven und emotionalen Dynamiken. Da Sentiments überzeitlich relativ stabil sein können, spielen sie im Zusammenspiel mit institutioneller Affektivität eine Schlüsselrolle für die Hervorbringung, Stabilisierung und Transformation normativer Ordnungen, was rechtliche und politische Ordnungen ebenso einschließt wie religiöse oder moralische Wertesysteme. Für die Frage nach der normativen Dimension affektiver Gesellschaften ist Sentiment daher ein Schlüsselbegriff.

Im SFB sind Sentiments hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Legitimität von Transitional Justice-Institutionen erforscht worden, insbesondere am Internationalen Strafgerichtshof in Afrika. Zudem wurde untersucht, wie bürokratische Sentiments in sozio-technischen Verwaltungsumgebungen institutionell erzeugt und herausgefordert werden und inwiefern Sentiments Eigentumsvorstellungen und nationale Identitätsdebatten im Kontext des (post-)kolonialen ethnographischen Museums hervorbringen, stabilisieren und womöglich verändern. Zukünftig werden Sentiments insbesondere als Element für die Dynamiken des Mobilisierens und Abwehrens eine Rolle spielen.

Publikationen aus dem SFB Affective Societies

  • Bens, J. (2022). The Sentimental Court: The Affective Life of International Criminal Justice. Cambridge: Cambridge University Press.
  • Bens, J. und Zenker, O. (2019). Sentiment. In: J. Slaby und C. von Scheve (Hg.), Affective Societies: Key Concepts (96-106). London: Routledge.
  • Bens, J., und Zenker, O. (2017). Gerechtigkeitsgefühle: Eine Einführung. In: J. Bens & O. Zenker (Eds.), Gerechtigkeitsgefühle: Zur affektiven und emotionalen Legitimität von Normen (pp. 11–36). Bielefeld: transcript.

Sonstige Quellen

Fassin, D. (2012). Humanitarian reason: A moral history of the present. Berkeley: University of California Press.

Foucault, M. (1972b). Power/knowledge: Selected interviews and other writings. New York: Pantheon Books.

Nussbaum, M. C. (2013). Political emotions: Why love matters for justice. Cambridge, MA: The Belknap Press of Harvard University Press.

Throop, J. C. (2012). Moral sentiments. In: D. Fassin (Ed.), A companion to moral anthropology (pp. 150–168). Malden: Blackwell.

Zitierweise

Jonas Bens, Olaf Zenker: „Sentiment“. In: Affective Societies: Key Concepts Online. Published by SFB 1171 Berlin, 4. November 2022.