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Begriff Institutionelle Affektivität

Institutionelle Affektivität

  • Version 1.0
  • Veröffentlicht 4. November 2022

Als institutionelle Affektivität werden im SFB lokale Ausprägungen von Emotionen und Affekten beschrieben, die in institutionellen Umgebungen entstehen, dort ausgestaltet werden und in der Praxis gezielt zum Einsatz kommen, um im Einklang mit den Zielen und Operationsweisen der jeweiligen Institution entsprechende Wirkungen zu entfalten. Zu diesen Wirkungen gehören Einschlüsse und Ausschlüsse von Individuen, Zuweisung von Status und Etablierung von Hierarchien sowie die Habituierung und Subjektivierung institutioneller Akteur:innen und Adressat:innen. Solche teils gezielt produzierten, teils infolge einer spezifischen institutionellen (Interaktions-)Praxis auch unwillkürlich entstehenden Affekte und Affizierungsweisen einer Institution sind im SFB bisher primär anhand dreier analytischer Dimensionen betrachtet worden. Sie artikulieren sich durch institutionelle Akteur:innen, durch die Gestaltung institutioneller Räume und anhand der affektiven Dimension von institutionellen Diskursen und Symbolen.

Das affektive Verhältnis von Akteur:innen zur Institution schlägt sich in affektiven Dispositionen, Gefühlsordnungen und emotionalen Bindungen nieder. Akteur:innen sind dabei einerseits in der Position, durch ihre Praktiken die Institution zu repräsentieren und mit zu formen und stehen andererseits selbst unter dem subjektivierenden Einfluss der Institution. Dieses wechselseitige Verhältnis affektiver Prägung ist ein wichtiger Mechanismus der institutionellen Reproduktion und bildet auch die Grundlage institutioneller Emotionsrepertoires, die mitunter gezielt durch explizite Programme und Trainings ‚fabriziert‘ werden. Institutionelle Affekte, die Akteur:innen betreffen, werden in Form verschiedener Techniken der Einbindung von Personen in institutionelle Perspektiven durch materielle Prozesse (beispielsweise Arbeit) und geteilte übergeordnete Ziele (idée directrice, das Imaginäre) ausgeprägt und habitualisiert. Dies umfasst oft auch eine Disziplinierung der Sinne, die im Einklang mit den Anforderungen der jeweiligen Praxisfelder erfolgt und eine wesentliche Dimension der Verkörperung institutioneller Anforderungen ausmachen kann.

Institutionelle Räume werden durch die jeweiligen affektiven Arrangements konstituiert, die spezifische Affizierungsmodi in institutionellen Umgebungen prägen. Institutionelle Affekte sind nicht Ergebnisse zufälliger Konstellationen, sondern bilden feste Bestandteile institutioneller wie institutionalisierender Politiken. Institutionen bilden auf diese Weise eine Binnenaffektivität aus, die den Übergang zwischen den institutionellen und anderen sozialen Räumen markiert – oft durch markante Intensitätsschwellen. So lässt sich der Zugang zur Institution affektiv regeln und beschränken. Institutionelle Affektivität dient insofern der Grenzziehung zwischen Innen und Außen. So kann z.B. affektive Homogenität Zugehörigkeiten markieren, daraus Ansprüche geltend machen und so den Fortbestand der Institution sichern.

Institutionelle Diskurse operieren mit sprachlichen Setzungen, die geltende Programmatiken ausrufen und Direktiven für ausführende Akteur:innen geben. Institutionelle Leitideen kristallisieren sich mitunter in einer charakteristischen Symbolik, oder in Losungen und Slogans, die Individuen innerhalb eines institutionellen Gefüges affektive Orientierung sowie ein Gefühl der (Nicht-)Zugehörigkeit vermitteln, während sie nach Außen Abgrenzung zu anderen Institutionen und sozialen Kontexten sicherstellen. Institutionelle Diskurse erfahren unterschiedliche Grade der Explikation. Während sie einerseits eine Signalwirkung und einen Wiedererkennungswert entfalten, fungieren sie andererseits als Träger geteilten Wissens über die Funktionsweise und Zielrichtung institutioneller Praktiken.

Somit artikuliert sich institutionelle Affektivität als Mannigfaltigkeit von institutionellen Praktiken, Zielen, Ästhetiken und Dynamiken, die nicht immer widerspruchslos miteinander synchronisiert werden können. Institutionelle Affekte sind deshalb immer spezifisch: sie treten je nach Institution in verschiedenen Formen auf, sind jeweils geprägt von unterschiedlichen Materialien, Medien und Sprachen. Um eine zielgenaue Kritik institutioneller Praxis und institutioneller Statuszuweisungen zu leisten und die Anlässe institutioneller Spannungen und Konflikte nicht zu verfehlen, bedarf es fundierter Einblicke in diese mal subtilen, mal markanten Affektdynamiken von Institutionen (emotionale Reflexivität). Die „vielen Leben“ einer Institution auf der Ebene institutioneller affektiver Dynamiken zu untersuchen, eröffnet die Möglichkeit, die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit institutioneller Existenz zu verstehen.

Publikationen aus dem SFB Affective Societies

  • Churcher, M, Calkins, S., Böttger, J. und Slaby, J. (2023). The Many Lives of Institutions. In: Slaby J., Calkins S., Böttcher, J. und Churcher, M. (Hg.), Affect, Power, and Institutions. (1-32) London: Routledge.
  • Dilger, H. und Warstat, M. (2023). Affective diversity: Conceptualizing institutional change in postmigrant societies. In: Slaby J., Calkins S., Böttcher, J. und Churcher, M. (Hg.), Affect, power, and institutions. London: Routledge.
  • Kohpeiß, H. (2023). Bürgerliche Kälte - Affekt und koloniale Subjektivität. Philosophie und Kritik. Frankfurt/New York: Campus.
  • Slaby J., Calkins S., Böttcher, J. und Churcher, M. (Hg.) (2023). Affect, Power, and Institutions. London: Routledge.
  • Wellgraf, S. (2021). Ausgrenzungsapparat Schule: Wie unser Bildungssystem soziale Spaltungen verschärft. Bielefeld: Transcript.
  • von Scheve, C., & Slaby, J. (2022). Im Schattenreich der Institution: Eine affekttheoretische Perspektive. Zeitschrift Für Kultur- Und Kollektivwissenschaft, 8(1), 137–164. https://doi.org/10.14361/zkkw-2022-080107

Sonstige Quellen

Ahmed, S. (2012). On being included: Racism and diversity in institutional life. Durham: Duke University Press.

Boltanski, L. (2011). On critique: A sociology of emancipation. London: Polity Press

Celermajer, D., Churcher, M., Gatens, M., & Hush, A. (2019). Institutional transformations: Imagination, embodiment and affect. Angelaki. Journal of the Theoretical Humanities, 24(4), 3–21. https://doi.org/10.1080/0969725X.2019.1635820

Gatens, M., & Mackinnon, A. (1998). Gender and institutions: Welfare, work, and citizenship. Cambridge: Cambridge University Press.

Guenther, L. (2019). Seeing like a cop: A critical phenomenology of Whiteness as property. In E. S. Lee (Ed.), Race as phenomena (pp. 189–206). Lanham: Rowman & Littlefield.

Hauriou, M. (1965). Die Theorie der Institution und zwei andere Aufsätze. Berlin: Duncker & Humblot (original work published, 1929).

Hodgson, G. (2006). What are institutions? Journal of Economic Issues, 40(1), 1–25. https://doi.org/10.1080/00213624.2006.11506879

Patalano, R. (2007). Imagination and society: The affective side of institutions. Constitutional Political Economy, 18, 223–241. https://doi.org/10.1007/s10602-007-9019-z

Seyfert, R. (2011). Das Leben der Institutionen: Zu einer allgemeinen Theorie der Institutionalisierung. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.

Zitierweise

Jan Slaby, Henrike Kohpeiß: „Institutionelle Affektivität“. In: Affective Societies: Key Concepts Online. Published by SFB 1171 Berlin, 4. November 2022.