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Begriff Bindung

Bindung

  • Version 1.0
  • Veröffentlicht 31. Oktober 2023

Der Begriff der Bindung (attachment) taucht in den Arbeiten des SFB 1171 in zwei Varianten auf. Eine Variante schließt an entwicklungspsychologische Ansätze an, die affektives Bindungsverhalten im Rahmen der frühkindlichen Sozialisation untersuchen. Für die andere Variante spielt ein erweitertes affekttheoretisches Verständnis von affektiven Anhaftungen eine Rolle, deren Objekt nicht nur andere Personen, sondern auch materielle Gegenstände, Orte, soziale Gefüge, Praktiken oder Technologien sein können. Vermittelt über die für die affect studies wichtigen Arbeiten von Deleuze und Guattari (insbesondere Anti-Ödipus) kann auch dieses zweite Bindungsverständnis auf die Psychoanalyse Freuds zurückgeführt werden, erfährt hier jedoch eine Ausweitung im Rahmen einer Ökonomie des Begehrens sowie durch die Konzeption des agencement (vgl. affektives Arrangement). Trotz der gemeinsamen Bezugspunkte und der für beide Ansätze wichtigen Betonung der Rolle affektiver Bindungen für die Formierung von Subjektivität stehen die beiden Varianten des affekttheoretischen Bindungsbegriffs in einem Spannungsverhältnis.

Bindungen oder attachments im ersten Verständnis beschreiben starke, emotional-affektive Beziehungen in der frühkindlichen Sozialisation und in anschließenden Lebensphasen, die eine zentrale Rolle in der Ausbildung affektiver Dispositionen spielen. Diese konstitutiven und identitätsstiftenden Beziehungen zeichnen sich dabei durch anhaltende Dauer und eine gewisse Hartnäckigkeit aus, die oftmals nur durch das Auftreten anderer, ähnlich intensiver Beziehungen moduliert werden kann. Dieser aus der Entwicklungspsychologie entlehnte Begriff von Bindung bildet somit ein Gegengewicht zu gängigen Assoziationen von Affekt mit Bewegung, Zirkulation und Transformation und verweist auf eine psychologische Tiefenstruktur affektiver Relationalität.

Diese Tiefenstruktur ist es auch, die ein Gefühl für die diachrone Dimension emotionaler und affektiver Bindungen vermitteln soll. Diese erschöpfen sich nicht zwingend in einzelnen Beziehungen, sondern werden im Sinne einer Sedimentierung in nachfolgende Beziehungen weitergetragen. Solche Bindungsdispositionen können als interne, affektiv-kognitive Arbeitsmodelle des (stets sozial-relational konzipierten) Selbst beschrieben werden, die Formen affektiver Bezugnahme auf andere Personen und die nichtmenschliche Umwelt prägen. Solche Modelle entwickeln sich durch vergangene Beziehungserfahrungen, prägen bestehende Bindungsbeziehungen und werden das Engagement in zukünftigen Begegnungen mitbestimmen. Das Konzept der Bindung berücksichtigt also sowohl die Kontinuität als auch den Wandel im Laufe des Lebens.

Das andere Verständnis von affektiven Bindungen im Sinne intensiver, mitunter lustvoller aber potenziell auch schmerzhafter Anhaftungen an Objekte, Gefüge oder Konstellationen ist im Kontext der Ausarbeitung des Begriffs des affektiven Arrangements thematisiert worden. Hier bestehen Bezüge zu den für die affect studies wegweisenden Arbeiten von Lauren Berlant, Kathleen Stewart und anderen, die sich mit den subjektkonstitutiven Anhaftungen an die Objektkulturen und Lebenswelten der spätkapitalistischen Gegenwart befassen, vornehmlich im US-Kontext. Bedeutsam ist auch Natasha Dow Schülls affekttheoretisch informierte Studie zu Verhaltenssüchten am Beispiel des machine gambling in Las Vegas, Addiction by Design (2014). Um suchtartige affektive Anhaftungen geht es auch in Melissa Greggs Studien zur Transformation und Entgrenzung von Büro- und Wissensarbeit (Gregg 2011).

Zwischen diesen unterschiedlichen Perspektiven gibt es durchaus Verbindungen, es besteht aber auch eine Spannung. Kritiker*innen unterstellen den affect studies den Bezug auf eine Semantik der Freisetzung und der Offenheit, deren emanzipatorische Rhetorik einer Semantik der Rigidität, der Bindung und der starren Gefühlsstrukturen entgegenstehe. Mitunter scheinen Bindungen geradezu als Hindernis für soziale Transformation verstanden zu werden (so lassen sich zumindest einige Passagen der affekttheoretischen Texte Brian Massumis deuten). Auf diese Weise wird einer detaillierteren Auseinandersetzung mit Bindungen als einer analytischen Perspektive vorgegriffen, obwohl der Bindungsbegriff auf vielschichtige Art und Weise in den Sozialwissenschaften Anklang gefunden hat und dabei nicht immer auf eine toxische Bindungsdisposition verweist. Zentral sind vielmehr die frühkindlichen Prägungen und deren Fortwirken im weiteren Lebensverlauf, was sowohl für „negatives“ bzw. gestörtes als auch für „positives“ Bindungsverhalten gilt. Im Umkehrschluss kann ein affekttheoretisch erweiterter Begriff von Bindungen den Engführungen mancher entwicklungspsychologischen Ansätze mit der (weiß-)bürgerlichen Kernfamilie entgegenwirken. Diese Engführungen sind mitunter ausschlaggebend für ein einseitig kritisches Verhältnis vieler Autor*innen zur attachment theory. Umgekehrt steht zu vermuten, dass Vertreter*innen der affect studies oft lediglich auf ein populärwissenschaftlich verkürztes Verständnis von Bindung bezugnehmen und auf eine Rezeption neuerer Forschungsarbeiten der Bindungstheorie verzichten.

Als Ergänzung und teils Präzisierung anderer zentraler Konzepte des Sonderforschungsbereichs, wie etwa affektives Arrangement, affektive Disposition, Sentiment, Emotionsrepertoire, Affekte der Rassifizierung und institutionelle Affektivität bringt das Begriffsfeld der Bindung in seinen beiden hier skizzierten Deutungslinien wesentliche Dimensionen und Komplikationen affektiver Subjektivierung im Zusammenhang von Relationalität, Macht und Gesellschaft in den Blick. Situiert zwischen psychischer Interiorität und relationaler Sozialität fungiert Bindung als wichtiges theoretisches Scharnier im Begriffsrepertoire des SFB 1171. So kann das Konzept Untersuchungen anregen, die über das bisher im Feld der affect studies und der interdisziplinären Emotionsforschung Geleistete hinausweisen, und zugleich neue Perspektiven der attachment theory jenseits des normativen Horizonts westlich-bürgerlicher Familienmodelle erschließen.

Publikationen aus dem SFB Affective Societies

  • Scheidecker, G. (2019). Attachment. In: J. Slaby und C. von Scheve (Hg.), Affective Societies: Key Concepts (73-84). London: Routledge.
  • Scheidecker, G. (2023). Parents, Caregivers, and Peers: Patterns of Complementarity in the Social World of Children in Rural Madagascar. Current Anthropology64(3), 286-320.
  • Slaby, J., Mühlhoff, R., & Wüschner, P. (2017). Affective arrangements. Emotion Review, Prepublished October 20, 2017. https://doi.org/10.1177/1754073917722214.

Sonstige Quellen

Ahmed, S. (2004). Cultural politics of emotion. New York: Routledge.

Ainsworth, M. D. S., Blehar, M. C., Waters, E., & Walls, S. (1978). Patterns of attachment: Assessed in the strange situation and at home. Hillsdale: Erlbaum

Berlant, L. (2011). Cruel optimism. Durham, NC: Duke University Press.

Deleuze, G., & Guattari, F. (1983). Anti-Oedipus: Capitalism and schizophrenia. (R. Hurley, M. Seem, & H. R. Lane, Trans.). Minneapolis: University of Minnesota Press. (Original work published in 1972)

Gregg, M. (2011). Work’s intimacy. Cambridge: Polity.

Keller, H. (2013). Attachment and culture. Journal of Cross-Cultural Psychology, 44(2), 175–194.

Morelli, G. A., Chaudhary, N., Gottlieb, A., Keller, H., Murray, M., Quinn, N., … Vicedo, M. (2017). Taking culture seriously: A pluralistic approach to attachment. In: H. Keller & K. Bard (Eds.), The cultural nature of attachment: Contextualizing relationships and development (pp. 139–169). Cambridge, MA: MIT Press.

Schüll, N. D. (2014). Addiction by design: Machine gambling in Las Vegas. Princeton, NJ: Princeton University Press.

Stewart, K. (2007). Ordinary Affects. Durham, NC: Duke University Press.

Zitierweise

SFB 1171: „Bindung“. In: Affective Societies: Key Concepts Online. Published by SFB 1171 Berlin, 31. Oktober 2023.