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Begriff Politischer Affekt

Politischer Affekt

  • Version 1.0
  • Veröffentlicht 28. August 2023

Im Rahmen der Arbeit am SFB umfasst der Begriff des politischen Affekts sowohl eine allgemein gefasste Theoretisierung des Politischen vor dem Hintergrund affektiver Relationalität (Affekte des Politischen), als auch die Untersuchung konkreter Manifestationen affektiver Politiken in diversen historischen Konstellationen (Affekte in der Politik). Dabei geht es weniger um eine definite Ableitung konkreter Verhältnisse aus abstrakten Bestimmungen des Politischen, als um die Ausarbeitung eines Reflexionsbegriffs, mittels dessen das Politische vor dem Hintergrund einer relationalen Ontologie zum Problem- und Möglichkeitsfeld affekttheoretischer Ansätze wird.

Jenseits einer Engführung des Politischen mit normativen Handlungstheorien selbstbestimmter Subjekte, bestimmt sich sowohl der Rahmen des Politischen, als auch der normative Charakter kollektiver Selbstbestimmung aus der affekttheoretischen Prämisse eines allumfassenden Affizierungsgeschehens, in dem alle Körper, seien sie individuell oder kollektiv, menschlich oder nicht-menschlich, organisch oder anorganisch, eingebunden sind in eine ökosoziale Matrix wechselseitiger Abhängigkeiten. In einem solchen, von Spinoza entscheidend beeinflussten Theorierahmen sind selbstbestimmte Akteure nicht Ausgangspunkt, sondern Resultat politischer Aktivität. Folglich stellt die Entwicklung und Entfaltung von Subjekten und deren Potenzialen eine zentrale Legitimationsgrundlage für politische Institutionen dar. Da die Steigerung individueller Freiheit und Handlungsmacht nur in einem kollektiv gestalteten Milieu affektiver Relationen realisiert werden kann, ist politische Freiheit weniger im bürgerlichen Individuum zu verorten, als in einer kollektiv ermöglichten Erweiterung des Selbst. Im Einklang mit diesem spinozistischen Freiheitsverständnis, das vor allem in der feministischen Spinoza-Forschung ausgearbeitet wurde, richtet sich der in diesem Kontext zentrale Begriff der Multitude gegen jede Auffassung von politischer Vereinigung, in der sich die Realisierung kollektiver Freiheit nur als Beschränkung individueller Freiheit vorstellen lässt. Entgegen der Substantivierung politischer Zusammenschlüsse zu singulären politischen Körperschaften, in der Einzelne sich einem größeren Ganzen (dem Volk z.B.) unterordnen und in ihm aufgehen, beschreibt die Multitude die dynamische Verknüpfung individueller Akteure zu einer heterogenen Assoziation, die ihnen unter gewissen Bedingungen erlaubt, gemeinsam zu Handeln (denkbar sind an dieser Stelle sowohl revolutionäre Massen als auch ein reaktionärer Mob, was die Ambivalenz dieses dynamisch-relationalen Politikverständnisses verdeutlicht).

Somit ergibt sich die Ausbildung von Individuen und Kollektiven in der Forschungsarbeit des SFB als ein durch und durch affektives Geschehen. Das Gleiche gilt für die Entwicklung, die Existenzweise und die Transformation operativer politischer Einheiten, von den verschiedenen Regierungsinstitutionen bis hin zum Staat oder Gemeinwesen als Ganzem. In diesem Sinne besteht die „Kunst“ der Politik darin die affektiven Energien, die in einer gegebenen sozialen Formation zirkulieren, vorteilhaft zu arrangieren und nutzbar zu machen und gleichzeitig Mittel zu finden, um die destruktiven Auswirkungen einzudämmen oder produktiv umzuleiten. So lassen sich sowohl die Produktion von Emotionen und Gefühlslagen (Emotion; Sentiment), die Formierung rassifizierter Formen von Zugehörigkeit und Gemeinschaft (rassifizierende Affekte), als auch eine affekttheoretische Dimension von Kontrollgesellschaften (Immersion, immersive Macht) in Hinblick auf politischen Affekt begreifen.

Als analytischer Begriff kann das SFB-Konzept von politischen Affekten dazu beitragen, die vielschichtige Beteiligung von Affekten an Regierungsstrategien und -technologien, als auch den vielfältigen Formen des Widerstandes gegen diese, sichtbar zu machen. Die Kultivierung von Affekten stellt zwar das Vermögen dar, neue Potenziale und Möglichkeiten zu schaffen, die Gestaltung spezifischer affektiver Dynamiken ist gleichzeitig aber auch zentral für eine erfolgreiche Technik des Regierens und der Fügbarmachung. Die Untersuchung von Affekten in den unzähligen Praktiken, die sich in dieser ständigen Dynamik des Regierens und des Widerstands entfalten, ermöglicht eine politische Analyse jenseits reduktionistischer Charakterisierungen, wie z. B. jener, die Politik als ein Spiel des Aushandelns vermeintlich rationaler politischer Interessen mit der gelegentlichen Anwendung physischer Gewalt betrachten. Als analytische Perspektive erlaubt politischer Affekt einen genaueren Blick auf die Feinheiten realpolitischer Interaktionen, die allzu oft aus dem Blickfeld geraten: das Intime, das Alltägliche, das nur Mögliche, aber nicht Realisierte, und auf die Verwobenheit dieser Kategorien mit dem Öffentlichen, dem Außergewöhnlichen und dem Realen. „Politischer Affekt“ folgt der Neugier eines „what matters?“ – kennt die Antwort dazu aber nicht im Voraus.

Publikationen aus dem SFB Affective Societies

  • Ayata, B. (2019). Affective Citizenship. In J. Slaby & C. v. Scheve (Hrsg.), Affective Societies. Key Concepts (S. 330-339). London: Routledge.
  • Ayata, B. & Harders, C. (2020). Midān-Momente. Zur Konzeptionalisierung von Affekt, Emotion und politischer Partizipation auf besetzten Plätzen. In S. Koschut (Hrsg.), Emotionen in den internationalen Beziehungen (S. 121-144). Baden-Baden: Nomos.
  • Bens, J. (2022). The Sentimental Court: The Affective Life of International Criminal Justice. Cambridge: Cambridge University Press.
  • Bens, J., Diefenbach, A., John, T., Kahl, A., Lehmann, H., Lüthjohann, M., Oberkrome, F., Roth, H., Scheidecker, G., Thonhauser, G., Ural, Y., Wahba, D., Walter-Jochum, R., & Zık, R. (2019). The Politics of Affective Societies. An Interdisciplinary Essay. Bielefeld: transcript.
  • Slaby, J. (2017). Affekt und Politik. Philosophische Rundschau 64(2), 134-162.
  • Slaby, J. und Bens, J. (2019). Political Affect. In: J. Slaby und C. von Scheve (Hg.), Affective Societies: Key Concepts (340-351). London: Routledge.

Sonstige Quellen

Armstrong, A. (2009). Autonomy and the relational individual: Spinoza and feminism. In M. Gatens (Ed.), Feminist interpretations of Benedict Spinoza (pp. 43-63). University Park, PA: Pennsylvania State University Press.

Balibar, É. (1998). Spinoza and politics (P. Snowdon, Trans.). London: Verso.

Bargetz, B., & Sauer, B. (2015). Der affective turn: Das Gefühlsdispositiv und die Trennung von öffentlich und privat. Femina Politica, 24(1), 93-102.

Hardt, M., & Negri, A. (2004). Multitude: War and democracy in the age of Empire. New York: Penguin.

Kwek, D. H. B. (2015). Power and the multitude: A Spinozist view. Political Theory, 43(2), 155-184.

Massumi, B. (2015). The politics of affect. Cambridge: Polity.

Protevi, J. (2009). Political affect: Connecting the social and the somatic. Minneapolis: University of Minnesota Press.

Sharp, H. (2011). Spinoza and the politics of renaturalization. Chicago & London: The University of Chicago Press.

Spinoza, B. (1951). A political treatise. In R. H. M. Elwes (Ed. & Trans.), The chief works of Benedict de Spinoza (Vol. I). New York: Dover. (Original work published 1677)

Spinoza, B. (1985). Ethics. In E. Curley (Ed. & Trans.), The collected works of Spinoza (Vol. 1). Princeton, NJ: Princeton University Press. (Original work published 1677)

Stoler, A. (2007). Affective states. In D. Nugent & J. Vincent (Eds.), A companion to the anthropology of politics (pp. 4-20). Malden: Blackwell.

Zitierweise

SFB 1171: „Politischer Affekt“. In: Affective Societies: Key Concepts Online. Published by SFB 1171 Berlin, 28. August 2023.