Soziale Kollektive
- Version 1.0
- Veröffentlicht 4. November 2022
Unter sozialen Kollektiven verstehen wir eine Mehrzahl von Akteuren, die sich durch reziproke Affektivität und ein sozial-relationales Selbstverständnis auszeichnen. Kollektive lassen sich damit weniger als eine durch geteilte Werte, Traditionen, Ziele oder eine kollektive Identität bestimmte soziale Formation verstehen, wie sie etwa klassisch für Gemeinschaften, Organisationen oder Körperschaften kennzeichnend sind, sondern vielmehr als eine durch Prozesse wechselseitiger Affizierung und geteilter Emotionalität sich formierende Akteur:innengruppe. Kollektive können in diesem Sinn als spezifische und in besonderem Maße fragile Formen affektiver Arrangements gefasst werden, deren affektive Relationalität und Gefühlsordnung durch mediale, diskursive und performative Praktiken beständig – und häufig konflikthaft – konfiguriert und re-konfiguriert wird. Ein solches Verständnis von Kollektivität steht keineswegs im Widerspruch zu existierenden Deutungs- und Erklärungsmustern von sozialer Ordnung; vielmehr können Kollektive als episodischer und flüchtiger Moment solcher sozialen Formationen verstanden werden. Ein affektbasiertes Verständnis von Kollektiven ermöglicht in besonderem Maße, und im Gegensatz zu anderen Ansätzen, die Berücksichtigung und konzeptuelle Anerkennung von sozialer und kultureller Heterogenität bzw. Differenz. Kollektive erscheinen von dieser Warte aus nicht (mehr) notwendigerweise als homogene oder Homogenität herstellende bzw. einfordernde soziale Formationen, sondern als soziale Gefüge, die sich aus der wechselseitigen Affizierung beteiligter Akteur:innen speisen. Mit diesem Verständnis knüpfen wir einerseits an interaktionistische Konzeptionen an, die den situativen und fragilen Charakter von Kollektivität betonen. Und wenden uns andererseits nicht gänzlich von substantialistischen Zugängen ab. Vielmehr gehen wir davon aus, dass zum Beispiel geteilte Überzeugungen und Wertvorstellungen in unterschiedlichen institutionellen und organisationalen Kontexten (Sentiments) sowie deren mediale und kommunikative Infrastrukturen das flüchtige Auftreten geteilter relationaler Selbstverständnisse und wechselseitiger Affizierung wesentlich begünstigen und damit am situativen Entstehen sozialer Kollektive (z.B. auch als temporäre affective publics) mitwirken.
Publikationen aus dem SFB Affective Societies
- Dilger, H., Kasmani, O., & Mattes, D. (2018). Spatialities of belonging: Affective place-making among diasporic neo-pentecostal and Sufi groups in Berlin’s city scape. In: B. Röttger-Rössler & J. Slaby (Eds.), Affect in relation: Families, places, technologies (pp. 93–114). New York: Routledge.
- Lehmann, H. (2017). How does arriving feel? Modulating a cinematic sense of commonality. TRANSIT, 11(1). Retrieved from: https://escholarship.org/uc/item/7sd2s0v6.
- Von Scheve, C. (2019). Social collectives. In: J. Slaby und C. von Scheve (Hg.), Affective Societies: Key Concepts (267-278). London: Routledge.
Sonstige Quellen
Anderson, B. (1983). Imagined communities: Reflections on the origin and spread of nationalism. London: Verso.
Borch, C. (2012). The politics of crowds. New York: Cambridge University Press.
Collins, R. (2004). Interaction ritual chains. Princeton: Princeton University Press.
Turner, J. C., Hogg, M. A., Oakes, P. J., Reicher, S. D., & Wetherell, M. S. (1987). Rediscovering the social group: A self-categorization theory. Oxford: Blackwell.
Stäheli, U. (2012). Infrastrukturen des Kollektiven: alte Medien – neue Kollektive? Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, 8(2), 99–116.
Zitierweise
SFB 1171: „Soziale Kollektive“. In: Affective Societies: Key Concepts Online. Published by SFB 1171 Berlin, 4. November 2022.