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Begriff Affektive Sozialtechnik

Affektive Sozialtechnik

  • Version 1.0
  • Veröffentlicht 13. Januar 2023

Affektive Sozialtechniken dienen der Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen und ihrer Stabilisierung im Verhältnis zwischen Individuen und Institutionen. Eine affektive Sozialtechnik ist die Kombination verschiedener materieller, emotionaler und intellektueller Praktiken um zum Beispiel die Legitimität einer Institution im sozialen Zusammenleben zu sichern. Insofern sind diese Techniken ein wichtiger Bestandteil der Beziehungen zwischen Individuen und ihren Lebensweisen auf der einen und sozialen Normen und Infrastrukturen auf der anderen Seite (institutionelle Affektivität). Dabei sind affektive Sozialtechniken nicht so sehr konstitutiver Bestandteil gesellschaftlicher Strukturen und Systeme, sondern eher Mittel, um die Widersprüche und Bruchstellen, also die negativen Konsequenzen schlecht eingerichteter Gesellschaften zu kompensieren und teilweise zu verschleiern.

Affektive Sozialtechniken regulieren damit sowohl das Selbstverständnis einer Gesellschaft durch die Vermittlung individueller Erfahrungen mit bestehenden Institutionen, als auch die Kohäsion dieser Gesellschaft durch die affektive Vermittlung verschiedener Interessen miteinander. Affektive Sozialtechniken geben Auskunft über die Bindungen der Mitglieder einer Gesellschaft aneinander und an die Institutionen, die sie regieren – sie stellen Wege zur Verfügung, um diese Bindungen zu erhalten auch dann, wenn die Lebensbedingungen nicht ideal, oder sogar gewaltvoll sind, was Lauren Berlant in Cruel Optimism präzise beschrieben hat.

Affektive Sozialtechniken entwickeln sich im Zusammenspiel mit denjenigen Praktiken affektiver Lenkung, die Foucault Regierungstechniken nennt und leisten sowohl die interessengeleitete Organisation affektiver Dynamiken, als auch die psychische Selbsterhaltung der von dieser Regierung gemeinten Individuen. Eine affektive Sozialtechnik kommt zur Anwendung, um Widersprüchen zwischen Werten und Wirklichkeiten zu begegnen und sie im Sozialen lebbar zu machen. Es handelt sich bei den konkreten Techniken jedoch nicht um Regierungsstrategien oder Manipulationen im engeren Sinn, weil jede Anwendung der Techniken auf eine soziale Übereinkunft und Bestätigung angewiesen ist, um ihr Ziel, die Vermittlung individueller Lebensformen und sozialer Prozesse, zu erreichen. Der Begriff affektive Sozialtechnik zielt vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Widersprüche genau auf diejenigen sozialen Prozesse, Agenturen, Praktiken und Entwicklungen, die im Rahmen von Selbstauskünften von Akteur:innen zu individuellen Handlungsmotiven oder Analysen staatlicher Interessen nicht unbedingt fassbar werden. Sozialtechniken spielen sich auf der Meso-Ebene affektiver Ordnungen innerhalb gegebener Gesellschaften ab und reagieren auf die genannten Regierungstechniken und die von ihnen produzierten Widersprüche in affirmativer, widerständiger, reparativer oder bloß pragmatischer Art und Weise. In affektiven Arrangements können solche Techniken zu materiellen Anordnungen verfestigt und in ihnen umgesetzt werden, so dass affektive Arrangements wiederum die Anwendung affektiver Sozialtechniken in bestimmten Räumen nahegelegen und erleichtern.

Der Begriff „Bürgerliche Kälte“ bietet ein Beispiel für eine affektive Sozialtechnik: „Bürgerliche Kälte“ beschreibt eine weithin geteilte Indifferenz bürgerlicher Subjekte gegenüber durch koloniale Gewalt verursachtes Leiden. Diese wissende Indifferenz wird durch das Vertrauen auf bestehende Rechtsinstitutionen ermöglicht und zieht eine Integration dieser Gewalt ins eigene Selbstverhältnis nach sich. Dabei macht sich die bürgerliche Klasse zwar nicht blind gegenüber dem Leiden, das in der von ihr eingerichteten Gesellschaft stattfindet, aber verortet die Gründe für dieses Leiden nicht in der Struktur der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Produktions- und Distributionslogiken, sondern betrachtet sie lediglich als deren punktuelles Versagen. Die affektive Sozialtechnik der Kälte unterstützt das affirmative Verhältnis zwischen bürgerlicher Subjektivität und kolonial-kapitalistischer Staatlichkeit zum Beispiel durch den Fokus auf individuelle Leidgeschichten, welche die Auseinandersetzung mit Leid innerhalb der Gesellschaft stark auf moralische statt politisch-strukturelle Konflikte lenken.

Noch pragmatischer kommt die affektive Sozialtechnik als individuelle Strategie zum Umgang mit politischen und moralischen Krisen zum Einsatz. Lauren Berlants Begriff „Cruel Optimism“ beschreibt das Festhalten von Individuen an kapitalistischen Fortschrittserzählungen, obgleich deren illusionärer Charakter in den materiellen Verhältnissen offensichtlich ist. Im Kontext der Klimakrise und ihrer gesellschaftlichen Verarbeitung stellen Affekte des Leugnens einen gefährlichen Weg dar, um sozial-affektiv mit der Eskalation der ökologischen Katastrophe umzugehen (dies zeigen etwa die Studien der Soziologin Kari Norgaard). Auch diese kollektiv betriebene affektive Ausblendung offenkundiger Geschehnisse kann als affektive Sozialtechnik bezeichnet werden.

Publikationen aus dem SFB Affective Societies

  • Kohpeiß, H. (2023). Bürgerliche Kälte - Affekt und koloniale Subjektivität. Philosophie und Kritik. Frankfurt/New York: Campus.

Sonstige Quellen

Adorno, G, Adorno, T.W. & Max Horkheimer, M. (2010 [1944]). Dialektik der Aufklärung: Philosophische Fragmente. S. Fischer.

Adorno, T. W. (1977). „Erziehung nach Auschwitz“. In Kulturkritik und Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Berlant, L. (2011). Cruel Optimism. Durham, NC: Duke University Press.

Norgaard, K. M. (2011). Living in Denial: Climate Change, Emotions, and Everyday Life. Cambridge, MA: MIT Press.

Zitierweise

Henrike Kohpeiß: „Affektive Sozialtechnik“. In: Affective Societies: Key Concepts Online. Published by SFB 1171 Berlin, 13. Januar 2023.