Emotionale Reflexivität
- Version 1.0
- Veröffentlicht 4. November 2022
Emotionale Reflexivität beschreibt aus einer gesellschaftstheoretischen und gegenwartsdiagnostischen Perspektive einen sozialen Prozess, mit dem affektive Phänomene zum Gegenstand von Sozial- und Kulturtechniken, gesellschaftlicher Aushandlungen und politischer Strategien werden. Kennzeichnend für emotionale Reflexivität ist die Diagnose einer zunehmenden Aufmerksamkeit gegenüber Emotionen und Affekten sowie der zunehmenden Thematisierung und Bewertung ihrer Rolle in öffentlichen Performanzen, politischen Handlungsrechtfertigungen oder Selbstbeschreibungen. Dabei ist emotionale Reflexivität gerade als der sich wechselseitig beeinflussende Zusammenhang gesellschaftlicher affektiver Dynamiken und Konjunkturen (public feeling) und der öffentlichen Auseinandersetzungen um die Rolle und den Stellenwert von Affekten und Emotionen zu begreifen, in dem Wissen und Diskurse über Affekte und der performative Vollzug von Affekten nicht getrennt voneinander betrachtet werden können.
Im Sinne der für den SFB leitenden Konzeption affektiver Relationalität unterscheidet sich das Verständnis emotionaler Reflexivität daher von einer eher sozialpsychologischen Perspektivierung, die die Bedeutung von Emotionen für das Selbst und für individuelle Reflexionsprozesse betont. Die gesellschaftstheoretische Perspektive auf emotionale Reflexivität untermauert vielmehr die Erforschung expliziter Bezugnahmen auf Emotionen und Affekte in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen und Konflikten; sie fokussiert mithin Emotionen und Affekte als „Streitsache“ und damit als Triebkräfte gesellschaftlicher Diskurse, Debatten und Transformationsprozesse. Gesellschaftliche Akteur:innen tragen dabei unter reflexiver Bezugnahme auf Affekte und Emotionen zu deren gezielten Hervorbringung, Abwehr und Modellierung bei. In diesem Zusammenhang können Emotionen und Affekte ebenso wie das propositionale Wissen um sie als Ressourcen zum Beispiel in ökonomischen, politischen und wissenschaftlichen Kontexten eingesetzt werden. Emotionale Reflexivität dient so auch als Erklärungszusammenhang für die gezielte Herstellung von Emotionsrepertoires sowie für Formen der Gefühlsbildung in Institutionen und Organisationen (vgl. institutionelle Affektivität). Zudem lässt sich durch emotionale Reflexivität die Beschaffenheit und Zusammensetzung von Kollektiven, Gruppen und Identitäten näher beleuchten. Für die Arbeit im SFB sind besonders die vielfältigen Formen richtungsweisend, in denen affektive Phänomene unter Rückbezug auf akademisches wie nicht-akademisches Wissen zum Bezugspunkt in Debatten und Diskursen und ebenso zu Gegenständen von gesellschaftlichen Gestaltungs- und Steuerungsprozessen werden.
Publikationen aus dem SFB Affective Societies
- Neckel, S. (2014): Emotionale Reflexivität—Paradoxien der Emotionalisierung. In: Fehmel, T., Lessenich, S. und Preunkert, J. (Hg.), Systemzwang und Akteurswissen: Theorie und Empirie von Autonomiegewinnen (117–129). Frankfurt am Main: Campus.
- Neckel, S. und Sauerborn, E. (2023): Fabricated Feelings: Institutions, Organizations, and Emotion Repertoires. In: Slaby J., Calkins S., Böttcher, J. und Churcher, M. (Hg.), Affect, Power, and Institutions. (35–46). London: Routledge.
- Sauerborn, Elgen (2019): Gefühl, Geschlecht und Macht. Affektmanagement von Frauen in Führungspositionen. Frankfurt am Main: Campus.
Sonstige Quellen
Burkitt I. (2012). Emotional reflexivity: Feeling, emotion and imagination in reflexive dialogues. Sociology, 46(3), 458–472.
Holmes M. (2010). The emotionalization of reflexivity. Sociology, 44(1), 139–154.
Zitierweise
Elgen Sauerborn: „Emotionale Reflexivität“. In: Affective Societies: Key Concepts Online. Published by SFB 1171 Berlin, 4. November 2022.