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Begriff Affektive Praxis

Affektive Praxis

  • Version 1.0
  • Veröffentlicht 9. Oktober 2023

Als heuristischer Begriff für die empirische Forschung entwickelt, beschreibt „affektive Praxis“ die Handlungen Einzelner oder Mehrerer vor dem Hintergrund größerer relationaler Zusammenhänge. Diese Zusammenhänge bestimmen Handlungsvermögen in Gestalt eines gegebenen Kontexts, eines vermittelnden Mediums, und als Möglichkeit der Transformation entscheidend mit. Insofern Affekte generell als relationale Vollzüge innerhalb eines Gefüges beschrieben werden können (Affekt) und intentionalen Handlungen eine affektive Dimension innewohnt, stellt sich die Trennschärfe des Begriffes „affektive Praxis“ als eine intermediäre Form dar, die analytisch auf der Meso-Ebene zu verankern ist und das Augenmerk auf die wechselseitige Einbindung von Akteuren in verschiedene Rahmen und auf verschiedenen Skalen hervorhebt (Wetherell 2012). Ausgehend vom zentralen Paradigma affektiver Relationalität, geht es bei der Erforschung affektiver Praktiken primär darum, die Wechselwirkungen des Affizierens und Affiziertwerdens zwischen Akteur*innen, Kollektiven und Umgebungen in Hinblick auf das Gestaltungsvermögen individuierter Akteur*innen zu durchleuchten. Als Konkretisierung der affektiven Relationalität ist der Begriff der affektiven Praxis ist damit dem SFB-Konzept des affektiven Arrangements vergleichbar, betont jedoch die historische Dimension und die Rolle von Individuen und ihrer Leiblichkeit im übergreifenden Affektgeschehen (Scheer 2012).

Neben affektiver Relationalität, spielen Formen diskursiver und sozio-materieller Vermittlung eine zentrale Rolle in der Ausbildung von Emotionsrepertoires und affektiver Dispositionen, die sich wiederum in affektiven Praktiken niederschlagen. Das bedeutet aber auch, dass die Komplexität und Weitläufigkeit dieser Formungsprozesse nur bedingt vom Standpunkt Einzelner erfasst werden kann. Eine praxeologische Herangehensweise an solche dynamischen Gefüge ließe sich nur auf verkürzte Art und Weise vom Erfahrungshorizont menschlicher Akteur*innen fassen. Der reflexive Umgang mit bewusst erfassten affektiven Dimensionen der eigenen Praxis von Seiten Handelnder macht daher nur eine Teilmenge affektiver Praktiken aus (affektive Sozialtechnik). Mit dieser Dezentrierung des selbstbestimmt handelnden Subjekts trägt das Konzept affektiver Praxis zu einer Umkonfiguration von Handlungstheorien bei, mit Bezügen zum Neuen Materialismus (Barad, Bennett, Haraway), zu praxeologischen Sozialtheorien (Bourdieu, Reckwitz) sowie zum Verkörperungsparadigma der Phänomenologie (Merleau-Ponty u.a.). Eine philosophische Ausarbeitung eines solchen Verständnisses von Praxis bietet die normativ-pragmatische Praxistheorie von Joseph Rouse (2002).

Deutlich wird diese partielle Dezentrierung des Subjekts am Begriff des affective writings, steht das Schreiben doch oftmals als ein paradigmatisches Beispiel für eine bewusste und reflexive Tätigkeit und Veräußerung von Interiorität. Mittels eines relationalen Affektbegriffs wird der Schreibprozess als ein dynamisches Verhältnis zwischen Schreibenden und geschriebenem Text erfasst, sodass sich ein breites Tableau verschiedener Akteur*innen, Werkzeuge und Rahmen entfaltet, die durch vielfältige formelle und informelle Beziehungen miteinander verschaltet sind – seien es linguistische Normen, stilistische Formbestimmungen, oder Prozesse der Kanonisierung. Im Zentrum steht hier die Erweiterung des Schreibprozesses um die Materialität von Schrift und Sprache, sowie der dynamischen Einbettung von literarischer Aktivität in einer breiteren Lebenswelt jenseits der schriftstellerischen Subjektivität.

Als intermediäre Form stellt der Begriff der affektiven Praxis damit andererseits auch ein Korrektiv gegenüber rein strukturalistischen, performativen oder netzwerkbasierten Ansätzen dar, die die Originalität von Subjekten gänzlich disqualifizieren, anstatt sie in einem stets auch zeitlich gedachten relationalen Gefüge zu situieren. Weder wird ein poststrukturalistischer „Tod des Subjekts“ postuliert, noch unkritisch den flachen Ontologien von Akteur-Netzwerk Theorien gehuldigt. Stattdessen bleibt die praktische Perspektive und biographische Historizität situierter verkörperter Akteur*innen als wesentlicher Faktor lokaler Affektgeschehen im Spiel.

Publikationen aus dem SFB Affective Societies

  • Fleig, A. (2019). Writing affect. In: J. Slaby und C. von Scheve (Hg.), Affective Societies: Key Concepts (178-186). London: Routledge.
  • Fleig, A., & Lüthjohann, M. (2019). Integrating affect and language: Essayism as an affective practice in Robert Musil’s The Man Without Qualities. In E. van Alphen & T. Jirsa. (Eds.), How to do things with affect? Affective operations in art, literature, and new media. Leiden: Brill.
  • Wiesse, B. (2019). Affective Practice. In: J. Slaby und C. von Scheve (Hg.), Affective Societies: Key Concepts (131-139). London: Routledge.

Sonstige Quellen

Gibbs, A. (2015). Writing as method: Attunement, resonance, and rhythm. In B. T. Knudsen & C. Stage (Eds.), Affective methodologies. Developing cultural research strategies for the study of affect (pp. 222-236). Basingstoke: Palgrave Macmillan.

Reckwitz, A. (2017). Practices and their affects. In A. Hui, T. Schatzki, & E. Shove (Eds.) The nexus of practices. Connections, constellations and practitioners (pp. 114.-125). New York: Routledge.

Rouse, J. (2002). How Scientific Practices Matter. Chicago: University of Chicago Press.

Scheer, M. (2012). Are emotions a kind of practice (And is That What Makes Them Have a History)? A Bourdieuan Approach to Understanding Emotion. In: History and Theory 51, 193–220.

von Maur, I. (2018). Die epistemische Relevanz des Fühlens. Habitualisierte affektive Intentionalität im Verstehensprozess. E-Dissertation. Universität Osnabrück. Abgerufen von https://repositorium.ub.uni-osnabrueck.de/handle/urn:nbn:de:gbv:700-20180807502 (am 26. August 2023).

Wetherell, M. (2012). Affect and emotion: A new social science understanding. London: Sage.

Zitierweise

SFB 1171: „Affektive Praxis“. In: Affective Societies: Key Concepts Online. Published by SFB 1171 Berlin, 9. Oktober 2023.